In Burgau am Attersee stand einst das noble Hotel Burgau, als idealer Ort zu Sommerfrische auf Fremdenkverkehrsprospekten beworden. Im zweiten Weltkrieg waren dort Kinder im Zuge der Kinderlandverschickung aus Deutschland untergebracht, bis es 1943 abbrannte. Die Kinder konnten gottseidank gerettet werden.
Als ich das erste Mal davon hörte, war ich tief bewegt, Arno Geiger dürfte es ähnlich ergangen sein, als er die Korrespondenz der Eltern, Kinder und Behördern zur Kinderlandverschickung in Schwarzindien am Mondsee, keine 20 km entfernt fand. Es hat etwas in ihm ausgelöst, das nicht zu stoppen war. „Die Qualität eines Stoffes bemisst sich daran, wie sehr er etwas in Gang setzt, emotional, gedanklich, in der Vorstellungskraft“, meint der Autor. Das Lager in Schwarzindien wird mit seinem neuesten Roman „Unter der Drachenwand“ international sehr berühmt werden.
Arno Geiger ist mit „Unter der Drachenwand“ etwas ganz Großes gelungen. Akribisch genau zeichnet er die Geschichte von Veit Kolbe, dem verwundeten Kriegsheimkehrer, der sich in Wien nicht mehr einleben will und in Mondsee landet. Zimmer an Zimmer mit der Dortmunderin, in die er sich verlieben wird, durchleben er und sein Umfeld am Mondsee die Kriegswirren am Land. Briefe der Mutter aus Dortmund, Nachrichten von exilierten Juden aus Budapest, eine verschwundene Schülerin des Lagers Schwarzindien: das Netz, das Geiger spinnt, ist dicht verwoben, wechselt die Perspektiven und entwirft ein detailgetreues Abbild, genährt von vielen Originalbriefen und Lebenszitaten, die der Autor im Vorfeld gelesen hat.
So bleibt der Soldat Kolbe keine fiktive Romanfigur, er spaziert durch den Bezirk Vöcklabruck in einer Authentitzität, als würde er immer noch leben. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen beim Lesen und je tiefer man eintaucht in dieses Seelen-Buch, desto mehr fragt man sich, welche Wirklichkeit im Moment eigentlich die reale sei. Eine Zeitreise von unglaublicher Qualität. Beinahe ertappte ich mich dabei, Ausschau zu halten, ob ich Veit Kolbe nicht an einer Bushaltestelle am Attersee sehen würde.
„Es war ein jahrelanger Prozess der Annäherung“ meint Geiger, „das Lager Schwarzindien kommt ja schon in Es geht uns gut vor. Ausdauer ist ein Faktor. Entscheidend ist aber vermutlich das, was ich Hingabe nennen würde, ganz im Sinne von Leo Tolstoi: Ohne Liebe kein Talent. – Für mich trifft das auf alle Fälle zu. Aus der Geringschätzung entsteht nichts Lohnenswertes. Ich erfahre von meinen Figuren nur das Intimste, wenn ich mit ihnen einverstanden bin, auch mit ihren Schwächen.“
Als ich „Unter der Drachenwand“ zuerst in die Hand nahm fragte ich mich, was einen 1968 geborenen Gegenwartsautor dazu treibt, sich dieses Themas aus einer Zeit anzunehmen, über die schon so viele Worte gesprochen worden sind und die er selber gar nicht erlebt hat.
Die Gedanke geriegt mir nach den ersten paar Seiten aus dem Fokus und noch viel mehr, als ich auf das Hörbuch wechselte, getrieben von einem Sog, der versucht, sich der Literatur auch außerhalb von gängigen Lesezeiten zu bemächtigen. So begleitete es mich ins Auto, beim Kochen, ins Schlafzimmer, beim Ausmachen von Terminen ertappte ich mich dabei jenen Kunden Vorzug zu geben, die weiter weg waren, Einladungen zu Fahrgemeinschaften schlug ich aus.
Ob über die Zeit des 2. Weltkrieges und dieses Nazi-Thema schon genug geschrieben worden ist? Nein. Wer im Jänner 2018 die österreichische Medienlandschaft durchforstet muss leider feststellen: es wird nie genug sein. Arno Geiger hat mit seinem jüngsten Werk einen Meilenstein dazugefügt.
Tipp: Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Verlag Hanser, 480 Seiten, € 26,80