Villa Traunegg in Oberweis (Copyright: Pepito Tey, CC BY-SA 3.0 AT via Wikimedia Commons)

Es gibt Bücher, die liest man und andere, die erlebt man förmlich mit. Das passiert selten und ist umso stärker, wenn es um die Entschlüsselung der eigenen Wurzeln geht. Das vorletzte Mal, als es mich so richtig gepackt hat, war bei Edmund de Waals „Der Hase mit den Bernsteinaugen“. Je mehr man in das Buch hineinfindet, desto mehr Welten gehen auf: Künstler und Magnaten, Netzwerke, Querverbindungen ungeahnten Ausmaßes, Familienschicksale. Bei „Das blaue Klavier. Von Wien über Mähren und Scheibbs nach Grado und Gmunden. Die Geschichte der Familie Martha und Victor Thonet um 1900“ von Andreas Maleta ist es mir ähnlich ergangen. Das Buch klang interessant und entpuppte sich als Verheißung.

Beiden Autoren gemein ist die Aufarbeitung der persönlichen Familiengeschichte und die Möglichkeit Fotos, Belege, Dokumente, Briefe, ja selbst Gemälde oder Gegenstände als Grundlage zu nehmen, aber auch die speziellen Stimmungen und Dynamiken eigener Erlebnisse im Familiensystem mitschwingen zu lassen, wie es einem Historiker in dieser Art einfach nicht möglich wäre. Denn auch das Verborgene, nicht Gesagte oder nicht Wahrgenommene hat im Leben eine Bedeutung.

Nach dem Tod seiner Mutter 2007 begann Andreas Maleta – Journalist und Autor aus Wien, der viele Jahre im Ausland gelebt hat – all jene Läden und Kästen zu öffnen, die ihm als wohlbehütetes Einzelkind mit Kindermädchen verwehrt waren. Und förderte nicht nur das Vermächtnis seiner Eltern sondern auch jenes seines Großonkels Victor Thonet und dessen Frau Martha zutage.

Maletas Vater Alfred war ein führender österreichischer Politiker der 2. Republik und neun Jahre lang Präsident des Nationalrates. Neben bekannten Persönlichkeiten und führenden Politikern wuchs er als wohlbehütetes Einzelkind mit Kindermädchen auf. Viel Zeit verbrachte die Familie im „Haus Traunegg“ in Oberweis, der „Thonet-Villa“, die dem Möbelfabrikanten Victor Thonet und dessen Frau Martha, die Großtante Maletas, gehörte. Das Paar war kinderlos und so fiel das Haus über Generationen weiter zuerst an seinen Großvater, dann an seine Mutter und 2007 an ihn. „Es war schon ein ganz ungewohntes Gefühl nach dem Tod meiner Mutter, das erste Mal das von ihr zurückgelassen Haus zu betreten – allein, ohne ihr zu begegnen. Zu ihren Lebzeiten hatte sie meine Neugier immer unterbunden, nie durfte ich uneingeschränkt in den Kästen stöbern. Jetzt standen mir alle Türen offen, nichts war verschlossen, nichts verborgen, nichts verboten“ schreibt er.

Der eigentliche Schatz fand sich in einer Schreibtischschublade: ein 1903 begonnenes Gästebuch der Thonets, das von den jeweiligen Erben weitergeführt worden ist.

1.000 Personen haben sich darin verewigt und zeigen, wie sich die Linien von Industrie, Kunst und Politik ab 1903 kreuzten. Zentral stehen die Geschichten der verwandten Familien Scheid (Goldschmied), Thonet und Auchentaller (Bildender Künstler) und des Wiener Großbürgertums. Nach und nach und auch dank Victor Thonets Fotografierleidenschaft bekam alles in der Villa schon immer Dagewesene seine eigene Bedeutung. Und auch jenes, was den Krieg nicht überlebte, aber auf Quellen verewigt ist. Wie das „Blaue Klavier“, auf dem Martha Scheid als noch nicht verheiratete Thonet schon bemerkenswert spielte und deren Musikzimmer der Jugendstilkünstler Josef Maria Auchentaller mit großformatigen Gemälden gestaltete.

Maleta legt Schicht für Schicht der Familie und deren nicht weniger interessanten Umfelder frei, was auch die Entwicklung von Handwerkern zu Industriellen zeigt. Er entstaubt sie und lässt so die Vergangenheit auferstehen. Weil ich so fasziniert darin war, ihm zu folgen, habe ich das Buch auch schon mehrfach verschenkt.

Die letzte Bleibe von Victor und Martha Thonet war die Villa in Oberweis, 5 km vom Traunsee entfernt, direkt an der heute viel zu lauten Hauptstraße. Zum Zeitpunkt des Kaufs 1937 war die leichte Erreichbarkeit entscheidendes Argument. Der ebenfalls besichtigte „Landsitz Roith“ am Traunsee inmitten noch unverbauter Wiesen war damals nur mit dem Boot oder über einen Pferdeweg erreichbar. Außerdem war den Thonets damals klar: „Wer will schon am See wohnen, wo es feucht, nebelig und immer kalt ist?“

Das vorhergehende Foto entstand bei der Buchpräsentation in der Villa Thonet in Wien (Okt. 2023). Copyright: andreas maleta press & publication/APA-Fotoservice/Schedl

BUCHTIPP:

Andreas Maleta: Das Blaue Klavier. Von Wien über Mähren und Scheibbs nach Grado und Gmunden. Die Geschichte der Familie Martha und Victor Thonet um 1900. Ibera-Verlag, 272 Seiten, 89 Abbildungen, € 30,00. Weiter Infos unter https://www.dasblaueklavier.com/

Thonet-Möbel: Biegen oder Brechen

„Biegen oder Brechen“ war das Motto der Thonet-Möbel, deren wesentliches Merkmal gebogenes Holz war. Die Sessel sind untrennbar mit der Wiener Caféhauskultur verbunden. Zuerst wurde von Thonet die Schichtverleimung perfektioniert, ab 1855 war es möglich Massivholz, das 4 – 5 Stunden bei 110 Grad gedämpft wird, zu biegen. Von Stuhl Nummer 14 wurden mehr als 50 Millionen Stück verkauft. Victor Thonet war der Enkel des Firmengründers.