„Vorgestern hab’ ich den Traunstein bestiegen. Um 6 Uhr morgens fuhr ich zu Wasser ungefähr fünf Viertelstunden nach der Lainaustiege. Meine Begleiter waren Hansgirgl und seine Schwester Nani, er ein rüstiger Gemsenjäger, sie eine hübsche, blauäugige Dirne. Wir stiegen aus und die steilen Stufen hinan. Schon am Fuße des Berges hatte mich eine Art Freudenrausch ergriffen, denn ich ging voraus und kletterte die Stiege mit solcher Eilfertigkeit hinauf, daß mir der Jäger oben sagte: ,Das ist recht so, weil Sie da herauf so gut gekommen sind, werden Sie auf den Traunstein wie ein Hund hinauflaufen.‘
Und es ging trefflich, in drei Stunden waren wir oben. Welche Aussicht! Ungeheure Abgründe in der Nähe, eine Riesenkette von Bergen in der Ferne und endlose Flächen. Das war einer der schönsten Tage meines Lebens; mit jedem Schritte bergan wuchsen mir die Freude und der Mut.
Ich war begeistert. Wenn mir mein Führer sagte: ‚Jetzt kommt eine gefährliche Stelle‘, so lachte ich, und hinüber ging es mit einer Leichtigkeit, die ich bei kaltem Blute nimmermehr zusammenbrächte und die mir jetzt am Schreibtische unbegreiflich vorkommt. Meine Zuversicht stieg mit jedem Schritte. Ganz oben trat ich hinaus auf den äußersten Rand eines senkrechten Abgrundes, daß die Nani aufschrie, mein Jäger aber frohlockte: ,Das ist Kuraschi! Da ist noch keiner von den Stadtherrn außitreten!‘ Der gute Kerl woilte mich bereden, in Gmunden zu bleiben noch einige Zeit, er würde mich dann mitnehmen auf die Gemsenjagd. — Bruder, die Minute, die ich auf jenem Rande stand, war die allerschönste meines Lebens; eine solche mußt Du auch genießen. Das ist eine Freude! Trotzig hinabzuschauen in die Schrecken eines bodenlosen Abgrundes und den Tod heraufgreifen sehen bis an meine Zehen, und stehen bleiben und so lange der furchtbar erhabenen Natur ins Anlitz sehen, bis es sich erheitert, gleichsam erfreut über die Unbezwinglichkeit des Menschengeistes, bis es schön wird, das Schreckliche. Bruder, das ist das Höchste, was ich jetzt genossen! Ich jauchze, wenn ich daran zurückdenke.“
Nikolaus Lenau an seinen Bruder nach der Traunsteinbesteigung am 7. Juli 1831