Einmal im Jahr fahre ich mit einer lieben Freundin aus der deutschen Verlagsbranche zur Wasnerin nach Bad Aussee. Wir genießen die Auszeit, recherchieren für neue Geschichten, wälzen Projektideen. Die Wasnerin ist ein Literaturhotel, Buchstaben sind Teil unseres genetischen Codes. Jedes Jahr widerstehen wir dort der Versuchung Struktur in das zu bringen, was sich „Bibliothek“ nennt und wo man Literatur begegnet. Anne Geddes-Bildbände zuoberst zählen da nicht dazu. Wir schätzen die Atmosphäre dort, das Stammpersonal, frühmorgendliche open-air Schwimmeinheiten. Bei unseren ersten Besuchen waren wir schockiert. Nun sind wir gleichermaßen fasziniert wie groß die Diskrepanz zwischen dem Etikett „Literaturhotel“ und Realität sein kann. Hier bedient man sich eines Begriffs, den man nicht willens ist im alltäglichen Betrieb zu beleben.
Ausnahme davon sind Lesungen mit prominenten Autoren und das Wortfestival Literasee. Seit 4 Jahren versammelt sich dafür die österreichische Autorenelite zu stimmigen Lesungen. Sogar ein Schreibstipendium wird vergeben. Dieses Jahr fiel die Wahl auf Mario Schlembach, sein Buch „Nebel“ hatte ich extra für meinen Aufenthalt dort aufgehoben. Titel und Inhalt erschienen mir passend für den November, das Thema Tod ist mir als Teil der Hospizbewegung Vöcklabruck vertraut.
Am Anfang und am Ende hat Schlembach Zitate von Ingeborg Bachmann gesetzt. „Wir Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod“ heißt es zu Beginn. Ein starker Auftakt. Vielversprechend und dort angesiedelt, wo am Ende der Illusion das Leben auf den Tod trifft. Es beginnt mit der Nachricht vom Tode des Vaters. Der Ich-Erzähler kehrt zurück in sein Heimatdorf, legt Hand an beim Ausheben des Grabes, wie er es oft mit seinem Vater, dem Totengräber, gemacht hat. Schlembach hat selbst als Bestattungshelfer gearbeitet, er erzählt aus den Tiefen der Praxis, das merkt man sofort. Und so ist man auch geneigt, die Romanfigur mit dem Autor gleichzusetzen. Immer wieder musste ich bewusst innehalten und erinnern, dass dies „nur“ ein Roman sei. Sonst hätte ich es als Biografie gelesen. Das Buch hat einen ganz eigenen Sog. Nach und nach führt es hinein in die Verstrickungen der Jugend, lässt Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen, skizziert Lebenswege, die in den Nebel führten, weil er half, die Wahrheit zu verdecken.
„Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben“, heißt es zum Schluss. Langsam schloss ich den Buchdeckel. Die Nebel hatten sich gelichtet, die Geschichte machte sich breit. Nur der sensationelle Blick auf den Dachstein half mir zurück in die Wellnessrealität zu finden …
Buchtipp: Mario Schlembach: Nebel. Otto Müller Verlag, 196 Seiten, € 20,00